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Ein Foto Willy Brandts gilt nach wie vor als verschollen: Winkend, als würde er Menschenmassen grüßen, hat Dieter Demme den Bundeskanzler abgelichtet, als der sich auf einem mystisch menschenleeren Bahnhof in Gerstungen aus dem Zugfenster lehnte. Nur für Demme und seine Praktika hatte sich Brandt in staatsmännische Pose gebracht. In Gerstungen wurden nach dem Treffen zwischen Stoph und Brandt 1970 in Erfurt die Lokomotiven umgekoppelt – und Demme war als Fotograf der DDR-Bild- und Nachrichtenagentur ADN dabei. Geblieben ist Demme davon nur die Erinnerung an das Motiv: Auf dem Weg in die Agentur-Zentrale nach Berlin ging die Filmrolle verloren, ist seither nie wieder aufgetaucht …

Heute kann Dieter Demme, der seit 1967 in Erfurt wohnt, schmunzeln, wenn er diese Geschichte erzählt. Es ist nur eine Episode aus einem prallen Fotografenleben, das ihn nach Kuba, Libyen, Skandinavien, Jugoslawien oder Mailand führte – und immer wieder zurück nach Erfurt. Bodenständig sei er und sich des Privilegs bewusst, das ihn als Agenturfotograf hinter die Grenzen der DDR schauen ließ. Nur in die BRD durfte er nie, wegen Verwandtschaft dort. „Ich wollte nie wegbleiben“, sagt er, wenn er auf seine Reisen zurückblickt: „Das Zurückkommen war immer das Schönste an meinem Job.“

Kirmesfeiern oder Markttreiben, Dorfstraßen im ersten Morgenlicht und Baumaschinisten, Kranbaubrigaden und Traktoristen: Den Alltag der Menschen in der DDR hat er stets nebenbei festgehalten in all den Jahren seines Fotografenlebens, ungezählte Filmschnipsel gesammelt zwischen seinen offiziellen Terminen. Sie zeigen heute das Land und die Leute so, wie die Parteioberen sie zu DDR-Zeiten nicht abgebildet wissen wollten. „Ich habe für mich fotografiert, was ich für wichtig hielt“, sagt Demme bescheiden. Seine Serie „Ostmenschen“ hat das Museum für Angewandte Kunst in Gera übernommen, 700 Motive von Demme befinden sich im Bundesarchiv in Koblenz.
Das Weitwinkelobjektiv war ihm stets das liebste. Nie habe er etwas für seine Fotos inszeniert, sondern sich als Beobachter lange Zeit genommen, bis er nicht mehr als Fotograf wahrgenommen wurde – und dann auf den Auslöser gedrückt.

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Der amerikanische Filmschauspieler Steve McQueen („Die glorreichen Sieben“), der 1964 bei der 39. Sechstagefahrt an der Erfurter Thüringenhalle an den Start ging, ist für Demme ein ebenso wertvolles Fotomotiv wie der Clown, der ihm in Wasungen im gestreiften HO-Bademantel und mit aufgeklebten Schuhen, komischem Hut und grob geschminkt vor die Kamera lief. „Solchen Aufwand mit der Verkleidung betreibt ja heute keiner mehr“, sagt Dieter Demme schmunzelnd.

Seine zurückhaltende Rolle als Fotograf habe er nur einmal bei einem Treffen zwischen Erich Honecker und Helmut Schmidt am Rande einer KSZE-Konferenz aufgegeben. Schmidt habe launig über japanische Fototechnik geplaudert, die in Ost wie West zum Handwerkszeug der Fotografen gehöre – und Honecker steif und wie steinern daneben gestanden. Ein Mitarbeiter der (West-)Deutschen Presseagentur dpa warf ein, auf Leica zu vertrauen – und nötigte so Demme im Pulk der Fotografen dazu, auf die Praktika in seiner Hand hinzuweisen: Honecker nahm den Ball auf, wurde lockerer und plauderte über Zeiss und seine Lieblingskamera – natürlich eine Praktika. Ein Dialog, der sich schließlich in der Westpresse wiederfand, wie sich Demme erinnert.

Nah dran am Motiv – das war Dieter Demme auch in Libyen. Den Diktator Muamar al-Gaddafi sollte er fotografieren zum 10. Jahrestag der Revolution, stellte sich dazu in eine Gruppe von Claqueuren, die nicht müde wurden, für ihn Unverständliches zu brüllen. So laut, dass sich Gaddafi in seiner Rede gestört fühlte. Auf böse Blicke reagierten die Claqueure jedoch nicht, riefen weiter. Da schnappte sich Gaddafi das Wasserglas vom Rednerpult, kippte es in Richtung Rufer: „Sofort war Stille – und ich klatschnass.“

Sein Handwerk hat Demme, Sohn einer Klempner-Familie, erst als Laborant und später als Fotograf in Sondershausen gelernt. Später war er in der Gothaer Mohrenstraße beschäftigt, als das Werk dort noch Agfa und nicht Orwo hieß. Sein Faible für den Motorsport brachte ihn zur GST (Gesellschaft für Sport und Technik) nach Berlin: „Für deren zehn Zeitschriften war ich anfangs nur auf Achse“, erinnert sich der Bildreporter. Ob Sportflug oder Taubenzucht, See- oder Pferdesport – die Themen waren breit gefächert, die Motive reich gesät. Eines davon schickte Demme 1965 zum World-Press-Fotowettbewerb nach Den Haag – und wurde als einer der ersten Fotografen der DDR ausgestellt.

Ein Erfolg, der den Weg zur Bildagentur ADN ebnete, für die Dieter Demme bis 1979 unterwegs war. Mit allen Widrigkeiten. 1978, so erinnert er sich, sei er zur Leichtathletik-Hallen-Europameisterschaft in Mailand gewesen – ein immenser Aufwand, letztlich für drei oder vier Bilder: Im Neuen Deutschland sei für mehr kein Platz gewesen, da 23 Fotos von Erich Honecker bei der Eröffnung der Leipziger Messe ins Blatt mussten.
1979 orientierte sich Demme neu. Ein wenig ausgebrannt sei er gewesen, wollte sich stärker der künstlerischen Fotografie widmen. Ein Fernstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig mit dem Abschluss „Diplom Fotografiker“ ebnete den Weg in eine freiberufliche Arbeit, beispielsweise für die Erfurter Umformtechnik.
Wendefotos, das bedauert der heute 76-Jährige sehr, gebe es von ihm nur wenige. Bei der Künstlerdemo auf dem Domplatz sei er dabei gewesen, ja. Ansonsten teile er das Problem vieler Fotografen aus dem Osten: „Wir waren paralysiert, haben auf das Geschehen geschaut wie das Kaninchen auf die Schlange – und dabei vergessen, auf den Auslöser zu drücken“, sagt Demme.

Erst später dann, die politische Wende war vollzogen, widmete der Fotograf sich wieder seiner Stadt: Indem er Bilder vom abrissreifen Andreasviertel machte und so dokumentiert hat, wie groß der Verlust an historischer Substand gewesen wäre, hätte die Wende die Abrisspläne nicht begraben. Hunderte Fotos dazu finden sich heute im Stadtarchiv Erfurt wieder, aufgenommen von Dieter Demme.

Und heute? Demme greift zu seiner Canon, selten auch zur 9×12-Großformatkamera. Fotografiert wird digital, auch wenn das Fotolabor im Keller seines Hauses noch dienstbereit ist. Seine neueste Fotoserie zeigt Landschaften im Morgengrauen. Oder Spiegelungen in gut mit Waren gefüllten Erfurter Schaufenstern: Wunden aus DDR-Zeiten sind in der Landeshauptstadt auch für den detailverliebten Blick Demmes längst keine Motive mehr.

Frank Karmeyer

Journalist

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