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Halten die Straßenbahnen länger als gewohnt? Die Laufschrift der EVAG zwar verweist auf das Gutenberg-Gedenken, aber Menschen hetzen über den Platz, telefonieren, haben Termine. Manch einer steht auf dem Anger, den Kopf gesenkt – ob sie auf ihre Bahn warten oder in diesen Minuten der Tat vom 26. April 2004 erinnern? Kameraleute und Fotografen sind auf der Suche nach diesem Moment.

Die Glocken der Erfurter Kirchen läuten. Ihr Klang begleitet zum Fischmarkt vor das Rathaus. Auch auf diesem Platz: Zeichen des Gedenkens oder eines Innehaltens im gewohnten Trubel sind nicht zu finden. Baulärm aus der Marktstraße mischt sich ins Glockenläuten, auf dem Domplatz schließlich werden Bühnen und Zelte abgebaut – Reste vom Autofrühling. Sitzen mehr Menschen auf den Domstufen als sonst? „Wenigstens das weiße Kreuz hätten sie wieder auf die Stufen stellen können“, sagt eine Frau.

In diesen Minuten sind die Türen der Andreaskirche geschlossen. Drinnen sind Menschen bei der Andacht, Pfarrerin Ruth Elisabeth Schlemmer verliest Lebenswünsche. Draußen wirft jemand laut krachend Flaschen in die Altglascontainer.

Auf dem Weg zum Gutenberg-Gymnasium tragen Menschen Blumen. Doch die Schultreppen, nach der Tat des Robert Steinhäuser und zum Gedenken im vergangenen Jahr, ein Ort der Trauer und um Blumen abzulegen, existieren nicht mehr. Weggebaggert. Der Eingang ist mit einer Plane verhängt. Ein tiefer Graben zieht sich um das Schulhaus, wie zur Verteidigung des Gebäudes staken Metallstäbe aus dem Erdreich, über die sich bald Beton ergießen wird. Blumen werden am Bauzaun abgelegt oder in die Maschen gesteckt, an denen auch das Schild hängt „Baustelle betreten verboten – Eltern haften für ihre Kinder“.

Hinein dürfen Schüler und Angehörige. Einige der Kinder und Jugendlichen, die hier wieder zur Schule gehen wollen, sitzen auf den Mauern der benachbarten Vorgärten. Schweigend. Sie warten auf jene, die den schweren Gang durch das Schulgebäude noch nicht beendet haben: Botschaften und Blumen werden dort abgelegt, wo vor zwei Jahren 17 Menschen starben.

Alina Wilms, die den Stab der betreuenden Psychologen leitet, ist auch auf dem Weg ins Gebäude: Wer Hilfe sucht, findet sie mit ihren Kollegen in einem Klassenraum. „Viele kommen ohne unsere Hilfe aus“, sagt sie. Nach zwei Jahren könnte jeder einschätzen, was er sich zumuten will, wo seine Grenze ist. In den wenigen Minuten im Schulgebäude gelinge ihnen die Konfrontation mit der Erinnerung am Ort der Tat. Was wird, wenn hier wieder normaler Schulaltag herrscht, das müsse sich zeigen.

Vor der Bäckerei wird Kaffee getrunken. Eine Frau im weißen Kittel stellt Stühle raus, als es mehr Schüler werden: „Für alle hab ich keinen. Da müssen die Jungs die Mädels auf den Schoß nehmen“. Es wird gelacht. René ist einer von ihnen. Vor zwei Jahren war er noch an einer anderen Schule, jetzt hat er gerade die Vorprüfungen hinter sich gebracht – im Ausweich-Schulhaus in der Scharnhorststraße. Ein freiwilliger Wechsel, ausgerechnet an diese Schule, die sich seit zwei Jahren im Ausnahmezustand befindet? Er mag den Zusammenhalt unter den Gutenberglern, sagt er. Weg von der Schule hätten nur wenige gewollt. Und: Jetzt laufe alles gut – was sein Abi betrifft.

Inzwischen stehen die Türen der Andreaskirche weit offen. 16 Kerzen brennen in Holzhaltern – eine für Robert Steinhäuser fehlt. „Aber auch an ihn und seine Familie denken viele“, sagt Pfarrerin Schlemmer. Orgelmusik kommt von der CD, vor dem Altar laufen die Vorbereitungen für das Gospelkonzert am Abend. „Heute vormittag waren viele Menschen hier“, sagt Pfarrerin Schlemmer. Nun ist die Kirche leer. „Es ist, als würde ich eine Totenwache halten“, sagt sie. Und fragt sich, ob es nicht ein Mittelding hätte geben können: Zwischen der großen Trauerfeier im Vorjahr, die nicht die Feier der Gutenberg-Schüler war. Und der Normalität und dem scheinbaren Nichts, das viele Menschen an diesem Tag allein lasse mit ihren Gefühlen. Draußen vor der Kirche quietscht die Straßenbahn. Sie fährt längst wieder nach Fahrplan – falls sie überhaupt an diesem Tag aus dem Takt geraten war.
26.04.2004 Von Frank Karmeyer

Frank Karmeyer

Journalist

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